Für die Entwicklung eines neuartigen stammzellbasierten Modellsystems zur Erforschung des Phelan McDermid Syndroms (PMS), einer seltenen neuronalen Entwicklungsstörung, erhält ein Team von Grundlagenwissenschaftlern und klinisch tätigen Ärzten aus Ulm und Magdeburg den mit 50.000 Euro dotierten Eva Luise Köhler Forschungspreis 2017.
Um die Erkrankung in dem von Prof. Dr. Dr. Michael Schmeißer konzipierten Projekt möglichst realitätsnah studieren zu können, werden zu Stammzellen reprogrammierte Körperzellen verwendet. Aus diesen sollen winzige Organstrukturen gezüchtet werden, die Zellverbänden aus dem menschlichen Hirn ähneln. Da diese sogenannten zerebralen Organoide den gleichen Gendefekt aufweisen, der bei den Betroffenen zum PMS führt, erhoffen sich Ärzte, Wissenschaftler und Patientenvertreter von der nun geplanten molekularen Charakterisierung dieses neuartigen humanen Modellsystems wichtige Ansatzpunkte für künftige Therapien.
Eva Luise Köhler zeichnete die Nachwuchswissenschaftler am 1. März 2017 im Anschluss an das diesjährige Symposium zum „Tag der Seltenen Erkrankungen" in Berlin aus. Der Forschungspreis der Eva Luise und Horst Köhler Stiftung wurde in Zusammenarbeit mit ACHSE e. V. zum zehnten Mal vergeben. Das heute ausgezeichnete Projekt stehe für die Kraft des Netzwerks und die enge Verzahnung von Wissenschaft und Klinik, so die ehemalige First Lady.
Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe erklärte: „Das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen und die Umsetzung des Nationalen Aktionsplans sind wichtige Schritte, um die Versorgung der Betroffenen und ihrer Angehörigen spürbar zu verbessern. Zudem tragen wir mit besseren Möglichkeiten zum Aufbau von besonderen Versorgungszentren dazu bei, dass Patientinnen und Patienten schnell, zielgerichtet und fachkundig die bestmögliche medizinische Betreuung erhalten. Der Eva Luise Köhler Forschungspreis ist ein wertvoller Ansporn, um die Entwicklung neuer Forschungsideen voranzutreiben. Herzlichen Dank für diesen Einsatz!"
Dr. Jörg Richstein, Vorstandsvorsitzender der ACHSE, betonte in seiner Ansprache die Bedeutung der medizinischen Forschung für die ca. 4 Millionen Menschen, die in Deutschland an einer der etwa 8.000 bekannten Seltenen Erkrankungen leiden: „Viele Betroffene versterben auch heute noch in den ersten Lebensjahren, da die Medizin weder die Krankheitsmechanismen versteht, noch kurative Therapieoptionen zur Verfügung hat."
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Michael J. Schmeißer (*1983 in Kempten/Allgäu) studierte von 2002 bis 2009 Humanmedizin an der Universität Ulm und promovierte 2010 zum Dr. med. Anschließend absolvierte er ein naturwissenschaftliches Promotionsstudium an der International Graduate School in Molecular Medicine der Universität Ulm, wo er sich nach seiner Promotion zum Dr. rer. nat. 2013 im Institut für Anatomie und Zellbiologie zusammen mit Prof. Dr. Tobias Böckers und Michael Schön der Erforschung des Phelan McDermid Syndroms widmete. 2014 absolvierte er die Facharztprüfung in Anatomie und sammelte weiterhin klinisch-neurologische Erfahrung u.a. im Rahmen einer interdisziplinären Spezialambulanz für Patienten mit Phelan McDermid Syndrom am Universitätsklinikum Ulm, die von der engagierten und leider viel zu früh verstorbenen Kinder- und Jugendpsychiaterin Prof. Dr. Andrea Ludolph etabliert wurde und jetzt von den Ärztinnen PD Dr. Sarah Jesse, Claudia Lührs-da Silva weitergeführt wird. Nach der Habilitation für Anatomie und molekulare Neurowissenschaften im April 2016 wurde Michael Schmeißer zum Professor für Neuroanatomie an die Otto-von-Guericke Universität Magdeburg berufen und zum Fellow des Leibniz Instituts für Neurobiologie in Magdeburg ernannt. Im Gedenken an Frau Prof. Dr. Ludolph widmet das Preisträgerteam ihr den Forschungspreis.
Mit dem Forschungsgeld der Eva Luise und Horst Köhler Stiftung für Menschen mit Seltenen Erkrankungen soll untersucht werden, inwieweit das innovative Krankheitsmodell hilfreich ist, neue Ansatzpunkte für künftige Therapien zu finden. „Spitzenforschung kann heutzutage nur als Teamwork gelingen", erläuterte Prof. Schmeißer und erklärt: „Aufgrund der Komplexität der Materie und des rasanten Wissenszugewinns müssen Grundlagenforscher verschiedener Disziplinen und klinisch tätige Ärzte eng zusammen arbeiten, um für die Patienten gemeinsam Erfolge zu erzielen.
So arbeiten etwa bei der Gewinnung des Ausgangsmaterial für die Organoide Neurowissenschaftler und Stammzellforscher Hand in Hand: Die durch künstliche Reprogrammierung von Körperzellen erschaffenen "induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS)", haben die Fähigkeit zurückerlangt, sich wie embryonale Stammzellen in sämtliche Zell- oder Gewebetypen differenzieren zu können. Um standardisierte Bedingungen zu schaffen, nutzen die Stammzellforscher dabei iPS-Zellen gesunder Spender, denen das SHANK3-Gen zunächst per CRISPR-Cas „Genomchirurgie" entfernt wurde. So kann der Gendefekt, der beim Menschen zu PMS führt, nachgestellt werden, während gleichzeitig gesundes Vergleichsmaterial vorhanden ist.
Im nächsten Schritt sollen aus den genetisch modifizierten iPS-Zellen winzige, ca. 3-4 mm große organähnliche Strukturen hergestellt werden, die Zellverbänden aus dem menschlichen Hirn ähneln. Binnen eines Jahres soll so ein humanes Modellsystem entstehen, an dem das komplexe biochemische Zusammenspiel in den betroffenen Nervenzellen auf molekularer Ebene umfassend analysiert werden kann.
Da die Organoide den gleichen Gendefekt aufweisen, wie er bei Patienten mit PMS auftritt, hoffen Wissenschaftler und Patientenvertreter dabei auf völlig neue Einblicke in die Erkrankung. „In nicht allzu ferner Zukunft untersuchen wir molekulare Prozesse in einem humanen hirnähnlichen Modellsystem – fast so, als hätten wir das erkrankte Hirngewebe in die Zellkulturschale gebracht" zeigt sich Prof. Schmeißer begeistert.
Durch die zielgerichtete Charakterisierung der zerebralen Organoide soll überprüft werden, ob die bereits im Mausmodell identifizierten Veränderungen auch im humanen Modellsystem nachzuweisen sind. „Maßgeblich ist für uns dabei die Frage, welche Therapieoptionen sich daraus für PMS-Patienten, aber auch für andere Betroffene mit ähnlichen Krankheitsbildern ergeben könnten," erläuterte der Arzt und Wissenschaftler und ergänzt: „Die genetischen Ursachen des Phelan McDermid Syndroms weisen darauf hin, dass man das Syndrom als seltene Modellerkrankung verstehen kann, aus der man allgemeingültigeres Verständnis für Autismus und Intelligenzminderung ableiten kann."
Die äußerst anspruchsvolle Verbindung von Grundlagen- und klinischer Forschung hob auch Prof. Annette Grüters-Kieslich von der Charité in ihrer Laudatio hervor. Insbesondere lobte sie die Patientennähe des Projekts, die sich aus der Einbindung der PMS-Spezialambulanz des Universitätsklinikums Ulm ergebe: „Den jungen Ärztinnen Dr. Sarah Jesse und Claudia Lührs-da Silva, die diese wunderbare Einrichtung auch nach dem leider viel zu frühen Tod der Initiatorin Frau Dr. Ludolph weiterführen, kann man gar nicht genug danken."