In der Regel wissen Eltern vor der Geburt ihres Kindes nicht, dass es von einer kraniofazialen Fehlbildung betroffen ist, obwohl weitere Untersuchungen im Verlauf der Schwangerschaft erste Verdachtsdiagnosen bestätigen können. Und so werden Eltern, Ärzte wie auch die Mitarbeiter der Klinik nicht selten überrascht, wenn ein Baby mit so deutlich sichtbaren Fehlbildungen das Licht der Welt erblickt. Ist das der Fall, dauert es Tage, manchmal Wochen, bis eine richtige Diagnose gestellt wird. Bis dahin herrscht Panik: Das Kind atmet nicht richtig, also wird ein Luftröhrenschnitt empfohlen.
Das Hirn wächst schneller, als der Schädel, also empfehlen nicht spezialisierte Mediziner, schnellstmöglich am Kopf zu operieren. Maßnahmen, die Leben retten sollen, können bei Kindern mit kraniofazialen Fehlbildungen lebensgefährdend sein, unnötiges Leid über Jahre verursachen und darüber hinaus unnötige Kosten.
Eine ungewöhnliche Kopfform, missgebildete Hände und zu viel Fruchtwasser: Auf dem Ultraschall kann man kraniofaziale Fehlbildungen, zu denen zum Beispiel das Apert-, das Crouzon- oder das Pfeiffer-Syndrom gehören, nach der 20. Schwangerschaftswoche erkennen. Bei diesen Fehlbildungen sind mehrere Schädelnähte schon bei der Geburt verknöchert, beim Apert-Syndrom außerdem auch die Zehen und die Finger zusammengewachsen. Die Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes und seine Familie sind komplex. Allein bis zu 20 Operationen sind notwendig – an Kopf, Händen, Füßen und Augen – der Großteil davon in den ersten drei Lebensjahren. Dennoch können die betroffenen Kinder ein fast normales Leben führen und aufwachsen, wenn Informationen verfügbar und Spezialisten bekannt sind und alle Rädchen der notwendigen Versorgung von Beginn an ineinandergreifen.
Doch wie sollen lebenswichtige Entscheidungen schnell und sicher getroffen werden, wenn das vorhandene Wissen nicht ausreicht, die richtigen Behandlungsmethoden nicht weit verbreitet sind, Spezialisten, die sich auskennen, rar oder nicht bekannt sind? Sicher, das Apert-Syndrom kommt in Deutschland bei etwa fünf bis sieben Geburten im Jahr vor, es ist somit sehr selten. Dennoch steht diese Schilderung symptomatisch für die Probleme, mit denen unzählige Eltern kämpfen müssen, deren Kinder mit einer Seltenen Erkrankung geboren werden.
Sandra Mösche ist Berufsschullehrerin mit Herz in Buxtehude. Sie unterrichtet Schüler im Berufsvorbereitungsjahr in den Fächern Deutsch und Farbtechnik, aber auch in Berufsschulklassen sowie im Beruflichen Gymnasium. Als gelernte Bauzeichnerin teilt sie ihre Leidenschaft für den Bau mit ihrem Mann, der selbst Architekt ist. Sie haben zwei Kinder: Erik und Svea.
Als ihr Sohn Erik mit dem Apert-Syndrom geboren wurde, traten sie der „Elterninitiative Apert-Syndrom e.V. und verwandte Fehlbildungen e.V." bei. Eine vernetzte Versorgung kann das Leid von Patienten mit Seltenen Erkrankungen und ihren Familien auffangen und mindern.
Werden in den ersten Lebensjahren durch Unwissenheit falsche Maßnahmen ergriffen, kann das schwere Folgen haben. Sandra Mösche weiß, dass es auch anders geht, anders gehen muss. Als Mutter eines Kindes mit Apert-Syndrom und 1. Vorsitzende der Elterninitiative Apert-Syndrom e.V. erzählt von ihren positiven Erfahrungen: „Wir hatten ein Netz, das uns auffing!"
Heute unterstützt sie selbst Paare, die an der Diagnose „Kraniosynoystosen" verzweifeln und sorgt mit ihrer Selbsthilfeorganisation dafür, das Wissen zu den kraniofazialen Fehlbildungen zu verbessern und zu verbreiten. Sie setzt sich dafür ein, dass Strukturen im Gesundheitssystem geschaffen werden, die die Leben von betroffenen Kindern retten und deren Lebensqualität verbessern. Hier schildert sie ihre persönlichen Erfahrungen.
Das Ultraschallbild in der 25. Schwangerschaftswoche ist beunruhigend: Fünfzehn Jahre sind seit diesem einen Termin bei ihrer Gynäkologin vergangen, doch Sandra Mösche erinnert sich, als wäre es gestern gewesen. Für die damals 25-jährige, die zu diesem Zeitpunkt in Hamburg studiert und für ihren Mann beginnt eine nervenaufreibende Zeit. Die behandelnde Gynäkologin überweist die junge Frau zur weiteren Untersuchung in eine Praxis für Pränataldiagnostik. Genetiker würden die Ultraschallbilder richtig deuten können. Dort wird schnell ein erster Verdacht geäußert: Apert-Syndrom. Zur Bestätigung des Verdachts wird eine Fruchtwasseruntersuchung durchgeführt. Auf das finale Ergebnis muss das Paar bis zur 28. Schwangerschaftswoche warten.
In einem ersten Beratungsgespräch werden die Mösches über die grundlegenden Fakten zum Apert-Syndrom informiert. „Auf keinen Fall selbst recherchieren", legt ihnen die umsichtige Genetikerin ans Herz. Zu viele falsche und womöglich abschreckende Informationen würden sie im Internet finden. Die Tage und Wochen bis zu der Diagnose sind zäh und zehrend, Ängste und Ungewissheit ständige Begleiter im Alltag des Paares, das sich ganz typische Fragen stellt: „Wie wird es unserem Kind gehen?", „Wird es starke Schmerzen erleiden müssen?", „Sind wir so einer Situation überhaupt gewachsen?". Für Sandra Mösche stellt sich außerdem die Frage, ob sie ihr Studium abschließen kann, um ihren Traumjob „Berufsschullehrerin" zu ergreifen oder stattdessen zur Krankenschwester für ihr Kind werden muss. Doch vor allem: „Wollen wir dieses Kind?" Letztlich entscheiden sich die beiden für das Baby. Ein Schwangerschaftsabbruch nach dem 7. Monat ist für sie einfach unvorstellbar.
Als die Diagnose „Apert-Syndrom" feststeht, klärt die Genetikerin die werdenden Eltern über die möglichen Auswirkungen des Syndroms auf. Sie nimmt sich Zeit: beschreibt nicht nur den schlimmsten Fall, verharmlost auch nicht, sondern stellt eine mögliche Bandbreite dar. Das hilft dem Paar, sich auf die Herausforderungen einzustellen, die mit diesem besonderen Kind auf sie zukommen können. Darüber hinaus vermittelt sie Kontakte zu Spezialisten, an die sich die Mösches wenden sollen: einem Kinder-Handchirurgen in Hamburg und einem Neurochirurgen in Würzburg. Beide Ärzte haben Erfahrungen mit Kindern mit Apert-Syndrom und können die Ängste der Mösches ein wenig mildern – mit ihren Fachkenntnissen und den Berichten von lebensfrohen und durchsetzungsfähigen Kindern. Das Wissen um die Erkrankung hilft außerdem bei der Wahl der Geburtsklinik. Nicht im kleinen Landkrankenhaus, sondern in einer Klinik mit einer guten Hintergrundversorgung und einer Säuglingsintensivstation soll ihr Kind zur Welt kommen. Und so erblickt Erik das Licht der Welt in Hamburg Altona. Wie es der Zufall will, wird Sandra Mösche dort von einem jungen Arzt betreut, der zuvor schon einmal ein Kind mit Apert-Syndrom zur Welt gebracht hat. Zum Glück, denn so weiß er selbst, welche Behandlungsschritte eingeleitet werden müssen.
Es folgt ein Leben in emotionalen Wellenbewegungen, geprägt von Krankenhausaufenthalten und Operationen. Für das Apert-Syndrom typisch sind die zwei Kopf-Operationen, bei Erik im Alter von neun und elf Monaten, sowie die acht Handoperationen zur Fingertrennung vor dem Eintritt in den Kindergarten. Beide Operationsmarathons müssen bei Spezialisten durchgeführt werden. Doch die sind so rar wie die Syndrome selbst. Um eine optimale Versorgung der verknöcherten Schädelnähte zu erreichen, reist die Familie von Hamburg nach München. „Zwischen den Krankenhausaufenthalten kann man das Syndrom ganz gut vergessen. Erik entwickelt sich gut – etwas langsamer als normal, aber gut." Doch auch kleine Standard-Eingriffe wie das Einsetzen von Paukenröhrchen in das Trommelfell werden zu großen Herausforderungen. Sie erfordern ebenfalls Kenntnisse zum Apert-Syndrom. Denn die Beatmung während der Narkose bei Menschen mit kraniofazialen Syndromen ist komplizierter, als bei anderen Menschen. Dafür sind zumindest gute Absprachen mit einem Spezialisten nötig. „Es kommt aber immer wieder vor, dass Eltern dem niedergelassenen Arzt zunächst selbst die Grunderkrankung erklären müssen, bevor dieser sich bereiterklärt, diese akute Erkrankung überhaupt zu untersuchen", weiß Sandra Mösche von anderen Eltern. „Das ist für uns in Ordnung. Schlimmer ist es für uns, wenn ein Arzt vortäuscht, er würde sich auskennen, dann aber absurde Diagnosen stellt und entsprechend widersinnige Behandlungen anordnet."
Eine ganz wesentliche Stütze für Familie Mösche in all' der Zeit ist die Selbsthilfe. Auch diesen Kontakt verdanken sie der Genetikerin, die ihrem Informationspaket einen Flyer der EAS „Elterninitiative Apert-Syndrom und verwandte Fehlbildungen e.V." beilegt. Der Verein kümmert sich seit 1991 um die Belange bei kraniofazialen Fehlbildungen. Ulli Jatczek, Gründer und damaliger Vorsitzender der EAS, nimmt sich damals ebenfalls viel Zeit, die Mösches über den Verlauf und die Auswirkungen des Apert-Syndroms aufzuklären und hilft ihnen Ängste und Vorurteile abzubauen. Schon kurz nach Eriks Geburt nehmen die frischgebackenen Eltern mit ihrem Baby an einem Familientreffen der Elterninitiative EAS teil.
„Dort dann fast 50 andere Familien mit betroffenen Kindern kennenzulernen, war eine große Erleichterung", erzählt Sandra Mösche mit einem verträumten Unterton in der Stimme. Und sie muss lächeln, als sie weiterspricht: „Besonders beeindruckend waren die Zwillinge! Die haben das Spielzimmer gerockt! Es tat uns so gut rennende, tobende Kinder zu sehen, die genauso herumalbern wie andere Kinder auch." Die Mösches schöpfen Hoffnung auf ein weitestgehend normales Leben. Sie treten dem Verein bei und haben seither kein Familientreffen verpasst.
Erik ist mittlerweile 15 Jahre alt, besucht die achte Klasse einer integrierten Gesamtschule und steuert auf einen Realschulabschluss zu. „Es gibt kuriose Momente, in denen ich gefragt werde, was mein Kind hat, und ich muss erstmal überlegen, was mit der Frage gemeint ist." Weil er entgegen der allgemeinen Erwartungen recht eigenständig ist und seine neunjährige Schwester Svea ihn gut auf Trapp hält, widmet Sandra Mösche ihre freie Zeit anderen betroffenen Eltern: „Seit vier Jahren leite ich die Elterninitiative Apert-Syndrom und verwandte Fehlbildungen e.V., in der ich seit 15 Jahren Mitglied bin. Sandra Mösche kennt die Ängste und die Bedarfe der Eltern aus erster Hand, kann sich gut in die Sorgen einfühlen, die ihr am Telefon geschildert werden: „Dass ihr Kind nicht innerhalb der ersten Wochen sterben wird. Den richtigen OP-Termin schon in den ersten Tagen zu verpassen, davor haben die meisten große Angst. Dabei ist das gar nicht nötig."
„Wenn Eltern mit der Diagnose allein gelassen werden, befragen sie Dr. Google. Das ist an sich eine gute Sache, aber das Internet ist für Laien zu ungefiltert. Man erfährt dort viel Halbwissen, das Ängste schürt." Und auch Ärzte seien, oft unwissend meint Sandra Mösche, was bei der Seltenheit der Erkrankung ganz normal sei. In ihrem komplexen und anstrengenden beruflichen Alltag haben Mediziner keine Zeit, sich umfassend über jede Erkrankung jedes seltenen Einzelfalles zu informieren. „Außerdem ist die Hemmschwelle bei Medizinern, sich an Selbsthilfegruppen, also primär an Laien, zu wenden, riesig."
Wie die meisten Patientenorganisationen leistet auch die Elterninitiative Apert-Syndrom mehr als nur die Erstberatung. Ihre Mitglieder setzen sich aktiv für Informationsbeschaffung und Verbreitung von Wissen ein: Neue (internationale) Studien und Forschungsergebnisse werden z.B. von Medizinern für den Verein verfasst und öffentlich verfügbar gemacht – für Eltern und Ärzte. Und das ist enorm wichtig. So werden in Deutschland Babys mit der Diagnose einer Kraniosynostose z.B. vielen CTs ausgesetzt – einige Ärzte setzen die Kinder vor und nach jeder Behandlung radiologischer Strahlung aus –, wo schon ein CT bei einem Baby das Krebsrisiko steigen lässt. Ein MRT oder ein Röntgenbild hingegen wäre ausreichend und weniger riskant. Doch das ist vielen Ärzten nicht bekannt. Immerhin: Vor zwölf Jahren hat der Verein es geschafft, die Fehlinformation über eine begrenzte Lebenserwartung der Betroffenen aus dem Ärztelexikon Pschyrembel zu streichen. Gerade erarbeitet die EAS eine Statistik zur schulischen und beruflichen Entwicklung bei kraniofazialen Syndromen und der Verein wird sich an der Erarbeitung einer offiziellen Leitlinie zu der Erkrankung und den Behandlungsmethoden beteiligen.
Für Sandra Mösche ist klar, dass kein Arzt oder anderer Therapeut alle der etwa 8.000 Seltenen Erkrankungen, von denen wir heutzutage wissen, kennen kann,. Auch können nicht alle Behandelnden zu Spezialisten dieser zahlreichen oft hochkomplexen Erkrankungen werden. „Ich wünsche mir eine Institution, an die sich Mediziner in so einem Fall schnell und unkompliziert wenden können, sodass ihnen die Patientenberatung durch einen Experten leichter gemacht wird."
Die EAS vertritt seit 1991 die Interessen Betroffener mit kraniofazialen Syndromen und deren Familien. Sie arbeiten bereits bundesweit, sind auch über Deutschlands Grenzen hinaus aktiv. Beispiele für kraniofaziale Syndrome sind Apert-, Crouzon- und Pfeiffer-Syndrom. Allen gemeinsam sind bei der Geburt verschlossene Schädelnähte, weshalb viele Operationen nötig sind, vor allem im Kleinkind- und Jugendalter.
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