Hurra, ich weiß nun die Diagnose meiner „unheilbaren Erkrankung"! Ein Satz, der auf mich überhaupt nicht zutrifft. Die Diagnose erhielten meine Eltern, als ich knapp drei Jahre jung war – vier Frakturen hatte ich zu dem Zeitpunkt bereits. Ich wuchs ganz selbstverständlich mit meinen „Glasknochen" und den schönen blauen Skleren um die Pupillen meiner Augen auf – die haben nur sehr wenige von uns.
Für meine Mutter brach damals, 1966, jedoch eine Welt zusammen. Sie erfuhr nicht nur, dass sie selbst Osteogenesis imperfecta (OI) habe, sondern auch, dass sie mir diese genetisch unheilbare Erkrankung vererbt hatte. Sie war im 7. Monat schwanger. Erst viel später, als wir beide Mitte der 80-er Jahre auf die ersten Anfänge der Deutschen Gesellschaft für OI-Betroffene e.V. stießen und diese weiter mitgründeten, begannen wir zu begreifen, welch Segen die damals
nur klinische Diagnose war. Zwar gab es damals noch keine Behandlung der OI, aber bereits die Aussage meiner Eltern, dass ich „Glasknochen" habe, führte dazu, dass mich alle besonders vorsichtig anfassten und behandelten. Die Idee, dass mich meine Eltern geschlagen oder misshandelt haben könnten, kam dank der frühen Diagnose zum Glück nie auf.
Inzwischen gibt es dank der modernen Wissenschaft des 21. Jahrhunderts bereits Behandlungsmöglichkeiten. Auch genetische Untersuchungen können ohne große Mühe durchgeführt werden. Immer häufiger kann dadurch schon bei Kindern sicher nachgewiesen werden, ob sie eine der derzeit 20 „entdeckten" OI-Mutationen aufweisen oder nicht. Das geht jedoch nur, wenn diese Tests auch angeordnet und im nötigen Umfang durchgeführt werden. Leider passiert dies bei leichter betroffenen Kindern oft nicht oder zu spät.
Doch in unseren Notaufnahmen und Kliniken herrscht enormer Druck. Aus mangelnder Zeit und Unkenntnis über seltene Knochenerkrankungen kommt es tragischerweise immer wieder dazu, dass Misshandlungen vermutet werden. Das Jugendamt greift dann rasch und effektiv ein. Kinder werden in Pflegestellen in Obhut genommen und verzweifelte, oft selbst ahnungslose Eltern schaffen es nicht, sich mit anwaltlicher Hilfe genetische Tests und ein Umgangsrecht zu erkämpfen, mit dem sie ihre Kinder nach der Diagnose zurückbekommen können. In meiner Zeit als Ehrenamtliche bei der DOIG hatte ich allein in den letzten zwei Jahren bereits acht Mal mit solchen Fällen zu tun. In einem Fall sind die Eltern bis heute nicht rehabilitiert und die Kinder weiterhin in Pflegefamilien – es ist eine Katastrophe. In den betroffenen Familien stellte sich in mehreren Generationen bisher nicht diagnostizierte OI heraus. In nur einem Fall scheint es eine noch nicht klare, noch unbekannte andere Knochenerkrankung zu sein – sicher ist aber, dass es keine Misshandlung gab.
Ein weiteres Problem ist, dass nicht diagnostizierte Kinder viel zu lange nicht die nötige und heute übliche Behandlung durch Medikamente und Physiotherapie etc. bekommen.
Ein Problem, das auch viele Erwachsene betrifft. Ich bin vielen OI-Erwachsenen begegnet, denen, zu ihrem großen Nachteil, nicht geglaubt wurde. Ihre Schmerzen wurden nicht anerkannt, die nicht sichtbaren, aber oft beträchtlichen Einschränkungen nicht ernst genommen. Selbst eine kleinwüchsige Medizinerin war einmal dabei, die erst mit 56 Jahren die richtige Diagnose und dann Behandlung erhielt. Bis dahin hatten alle und sie selbst angenommen, sie habe nur einen Vitamin-D-Mangel.
Die Diagnose einer „unheilbaren" Erkrankung wie OI ist in den meisten Fällen ein absoluter Segen. Es ist eine Notwendigkeit und sollte unser „Bürger"- oder Patientenrecht sein. Wer belächelt wird aufgrund von nicht nachweisbaren Ursachen für Schmerzen oder nicht nachvollziehbarer körperlicher Schwächen, wer für psychisch gestört und wehleidig gehalten und zum Psychologen oder einfach nach Hause geschickt wird, erleidet schweres Unrecht. Wenn dann noch der Misshandlung bezichtigt wird, ist Opfer einer reichen, aber unsensiblen Wohlstandsgesellschaft.
Es gibt unzählige, traurige Geschichten, wie lange Menschen mit noch unbekannten seltenen oder sogar ultraseltenen Erkrankungen auf Diagnose und anschließende Behandlung warten müssen. Man kann nicht oft genug betonen: Diagnose ist enorm wichtig, die Basis für Behandlung, Anerkennung in der Gesellschaft, Teilhabemöglichkeiten, Austausch mit anderen und ein Ende der Isolation.
Ute Wallentin
Deutsche Gesellschaft für Osteogenesis imperfecta (Glasknochen) Betroffene e. V.
Seit 1984 setzt sich die Selbsthilfeorganisation bundesweit für die Interessen von Menschen mit Osteogenesis imperfecta und deren Angehörigen ein. In Deutschland wird umgangssprachlich oft der Begriff Glasknochen verwendet, denn die Knochen der Betroffenen brechen ähnlich schnell wie Glas. Das Leben mit OI stellt besonders in der Kindheit und Jugend in vieler Hinsicht eine Herausforderung dar, kann mit etwas Hilfe und Unterstützung jedoch zu einem sehr erfüllten und weitgehend unabhängigen Erwachsenenleben führen. Die Patientenorientierte Krankheitsbeschreibung (PKB) der Organisation beinhaltet die unterschiedlichen Unterstützungs- und Therapiemöglichkeiten. Rein statistisch gesehen schätzt man in Deutschland die Zahl der Betroffenen auf 4000 bis 6000 Menschen, die mit dieser erblich bedingten Störung leben. Die tatsächliche Zahl dürfte allerdings noch höher liegen, da die milderen Formen oftmals erst im späten Erwachsenenalter festgestellt werden.
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