Aufgrund der Reisebeschränkungen und zum Schutz vor COVID-19 fand die 10. Europäische Konferenz zu Seltenen Erkrankungen und Orphan Drugs erstmalig online statt. Das war einerseits traurig, weil ein wesentliches Herzstück fehlte, nämliche der direkte Austausch von Angesicht zu Angesicht. Zugleich konnten auf diese Weise mehr Menschen denn je dabei sein: 1500 Teilnehmende aus ganz Europa waren auf der Onlineplattform eingeloggt, die mit ihren Chatrooms, virtuellen Konferenzräumen, den Meet & Greets, einer enormen Posterausstellung versuchte, echte Konferenzatmosphäre zu schaffen.
Patientenvertreterin Lise Murphy von der Marfanselbsthilfe Schweden führte beherzt durch den Eröffnungsteil mit vielfältigen Beiträgen. Zum Beispiel von Helena Dalli EU-Comissionerin für Gleichberechtigung aus Malta, die wie alle live per Video zugeschaltet wurde: „Das Leben mit einer Seltenen Erkrankung oder einer Behinderung geht nicht nur mit gesundheitlichen Problemen einher, sondern mit Einschränkungen in Beruf, Alltag und Sozialleben. Daher sollte der Fokus in Politik und Gesellschaft stärker auf Gleichstellung bzw. Gleichberechtigung gerichtet sein." Mit ihrer Videobotschaft signalisierte die Königliche Hoheit Kronprinzessin Victoria von Schweden nicht nur ihre Unterstützung für die Anliegen der Waisen der Medizin, sondern steuerte ein wenig Glanz bei.
Highlight der Eröffnung war sicher die kraftvolle und inspirierende Rede von David Lega. (Foto David Lega). Lega, ein schwedischer Politiker und Abgeordneter im EU-Parlament, erfolgreicher Teilnehmer der Paralympics und mehrfacher Weltmeister im Schwimmen, machte eindringlich darauf aufmerksam, dass Menschen nicht auf ihre Behinderung oder Seltene Erkrankung reduziert werden dürfen, sondern in ihrer komplexen Persönlichkeit akzeptiert und unterstützt werden sollten. COVID-19 zeige, dass es nicht die eine Lösung für alle 27 EU-Staaten gebe und hier nationale Lösungen angebracht seien und ja auch ausprobiert würden. Dennoch werde europaweit die große Gruppe der Menschen mit Behinderung respektive Seltener Erkrankungen vernachlässigt. Für sie sei das „social" oder „physical distancing" eine enorme Herausforderung. Betroffene wären komplett von der Suche nach Lösungen im Umgang mit COVID-19 ausgeschlossen. Das dürften wir nicht zulassen. #LeaveNoOneBehind gelte jetzt noch mehr, denn je!
Wie soll die Zukunft aussehen, in der wir Seltenen leben wollen, war die große Frage, die sich durch den ECRD wie ein Roter Faden zog. Alle Vorträge, Präsentationen, Chats der Bereiche Diagnose, Digitalisierung, Versorgung, etc. hatten zum Ziel, Ideen oder gar erste Maßnahmen hervorzubringen, die als Diskussionsgrundlage im Projekt Rare2030 einfließen sollen. Zwei volle Tage konnte man den Vortragenden folgen, am Ende gab es die Zusammenfassung aller sechs Themenbereiche. Deutlich wurde vor allem, dass heute schon viele Errungenschaften entwickelt sind, die das Leben von Menschen mit Seltenen Erkrankungen erleichtern können, ob in den Bereichen Digitalisierung, Gentechnik, Diagnose... Doch das „wie" in der Umsetzung ist entscheidend. Wenn die Seltenen ihre Zukunft mitgestalten wollen, müssen sie sich selbst laut in Entscheidungs- und Entwicklungsprozesse einbringen.
Tummeln konnte man sich in sechs verschiedenen Themenräumen und dort an Vorträgen und Panels teilnehmen.
Tag eins drehte sich hier um den Umgang mit Patientendaten. Verschiedene Modelle wurden präsentiert. Einig waren sich alle Referierenden darin, dass Patientendaten im Bereich der Seltenen Erkrankungen unabdingbar seien, aber neue Regeln für den Umgang damit aufgestellt werden müssten. So ist das niederländische und von der EU finanzierte Projekt GO FAIR der Meinung, dass die Daten, bei denen bleiben sollten, denen sie gehören. Man müsse sich auf Regeln einigen, die den Zugang zu diesen Daten unter bestimmten Voraussetzungen erlauben. Patienten müssten in die Prozesse grundsätzlich einbezogen werden und sind deshalb auch Teil des Netzwerks GO FAIR. Herausforderungen gibt es vor allem im Bereich der Datensicherung. Wie können zentralisierte Register geschützt werden? Ein interessanter Gedanke war sicherlich, dass Patienten, der Wissenschaft in gewisser Weise ihre Daten schulden würden, denn nur diese könnten die Entwicklung vorantreiben und letztlich würden davon alle Menschen profitieren. Wichtig sei also auch in der Kommunikation nach Außen den Fokus auf die Vorteile von Data Sharing zu legen und natürlich Vertrauen durch Transparenz zu schaffen.
An Tag zwei wurden neue Technologien und Devices vorgestellt, die Menschen mit Einschränkungen die Übernahme alltäglicher Aufgaben ermöglichen. Besonders spannend war der Epihunter. Ein smartes Stirnband mit einem Licht wie es Radfahrer oder Jogger im Dunkeln nutzen, deren Licht sich hier allerdings dann einschaltet, wenn die Träger kleine Schlaganfälle oder Epilepsien haben. Entwickelt wurde dieser Epihunter von einem kleinen Startup, deren Ingenieure aus Belgien und Schottland Eltern betroffener Kinder sind. Epilepsien verlaufen für andere oft unsichtbar mit kleinen Hirninfarkten, die zu Aussetzern führen. Das Stirnband macht diese kleinen „Schlaganfälle" sichtbar. Es hilft zum Beispiel Lehrern zu verstehen, wann der betroffene Mitschüler einen „Aussetzer" hatte und deshalb dem Unterricht kurz nicht folgen konnte, was vorher nicht möglich war. So ein Device wie der Epihunter kann das gegenseitige Verständnis füreinander verbessern. (www.epihunter.com)
Zwei Fazits lassen sich aus dieser Session ziehen: Die Technologie ist längt da, es braucht viel Awareness und Informationen darüber, was sie vermag und wo sie zum Einsatz kommen sollte. Lehrer, Therapeuten, Ärzte etc. benötigen Schulungen, damit letztlich auch Hürden abgebaut werden, die den Einsatz solcher Tools heute noch verhindern. Die zweite wichtige Erkenntnis ist die, dass nicht die Einschränkung an sich die Herausforderung im Alltag darstellt, sondern der Umgang der Gesellschaft mit Menschen mit Beeinträchtigungen. Untersuchungen haben gezeigt, dass Betroffene am Alltag teilnehmen können, wenn man sich Zeit nimmt, ihnen zum Beispiel das Onlineprogramm auf dem Laptop zu erklären oder Zugang zu Tools schaffen. Wir müssen alle umdenken!
„Wenn Therapien Bedürfnisse erfüllen: Ermöglichung eines patiententext-centeren Ansatzes zu therapeutischer Entwicklung" – diese Überschrift stellte die Grundlage für das Thema vier dar.
In diesem Themenbereich wurde eine Bilanz über den bisherigen Fortschritt bei der Entwicklung von Arzneimitteln für Menschen mit einer seltenen Erkrankung gezogen und betrachtet, wie sich dieser Bereich bisher entwickelt hat. Die Schwerpunkte lagen dabei auf jüngsten wissenschaftlichen Innovationen, klinischer Forschung, regulatorischen Lösungen, Hindernissen und Herausforderungen bei der Entwicklung von Therapien, die die Bedürfnisse der Patienten erfüllen. Außerdem wurde diskutiert, wie Erkenntnisse aus der Praxis in die therapeutischen Entwicklungsprozesse eingebunden werden können.
Während der ersten Session ging es zunächst darum, was die Patienten überhaupt von der Therapieentwicklung erwarten. Dazu wurden die Ergebnisse verschiedener Rare Barometer-Erhebungen (z. B. Erfahrungen von Patienten mit Seltenen Erkrankungen mit Zugang zu Behandlungen) präsentiert und auch während der Session konnten sich die Teilnehmenden interaktiv an Umfragen beteiligen. Aus den interaktiven Abstimmungen konnte man erkennen, dass die meisten Teilnehmenden sich ein Zukunftsszenario mit Investitionen für soziale Gerechtigkeit wünschen würden.
Im zweiten Teil wurden innovative Trends in der klinischen Forschung diskutiert. Studiendesigns wurden vorgestellt und auch Beispiele für die Durchführung von Studien sowie innovative Ansätze zur Datenerfassung waren Teil der Session. Prof. Veronica Miller von der University of California wies gerade im Bereich der Datenerhebung darauf hin, dass die Digitalisierung hier eine große Chance bietet, die genutzt werden sollte.
Am zweiten Tag drehte sich alles um die Entwicklung und Verwendung von Arzneimitteln für neuartige Therapien (ATMP), von der Idee bis zur Genehmigung und darüber hinaus. „Die Patienten müssen als gleichwertige Partner und nicht nur als Objekt der klinischen Studien betrachtet werden. Nur wenn Entwickler, Ärzte, Aufsichtsbehörden und Patienten in gleichen Teilen zusammenarbeiten, können wir optimale Ergebnisse erzielen", so Tomasz Grybek, der die Patientenseite vertrat.
Auch in der letzten Session wurde verdeutlicht, wie wichtig die praktischen Erfahrungen der Patienten für die Entwicklung von Arzneimitteln und Therapien ist. Der Patient sollte im Mittelpunkt aller Aspekte der Arzneimittelforschung, -entwicklung, -zulassung und der zukünftigen Evidenzgenerierung stehen. „Kommunikation und Verständnis zwischen allen Akteuren ist der Schlüssel zum Erfolg", so Dr. Anja Schiel von der Norwegischen Arzneimittelbehörde.
Zusammenfassung der Ergebnisse und Fazits aus den sechs Themenbereichen
Am Ende der Konferenz wurden die wichtigsten Ergebnisse aus allen sechs Sessions zusammengefasst präsentiert.
EURORDIS Geschäftsführer Yann Le Cam (Foto) war sichtlich erleichtert und glücklich, als er die Konferenz beendete. EURORDIS hatte eine enorme logistische Leistung erbracht. Mit einer Träne im Knopfloch bedankten sich die Teilnehmenden ein weiteres Mal per Chatfunktion für diesen informativen ECRD mit tollen Sprecher*innen. Noch ein Jahr lang wird die Website mit ihren Beiträgen und Videos für alle Teilnehmenden zugänglich sein. Der nächste ECRD in zwei Jahren findet dann hoffentlich wieder „in Echt" statt.
Ein Austausch fand natürlich nicht nur auf der Onlineplattform des ECRD selbst statt, sondern in den Sozialen Medien, wo fleißig getwittert, gepostet, kommentiert und geteilt wurde.
Mirjam Mann, LL.M.
Geschäftsführerin
+49-30-33 00 708-0
liamE
Bianca Paslak-Leptien
Leiterin Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
+49-30-3300708-26
liamE